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Trauer nach Suizid

Aus dieser existentiellen Krise Hoffnung schöpfen und anders weiterleben

Am Morgen haben sie sich noch mit einem Lächeln voneinander verabschiedet. Gemeinsam kurz den Kindern auf dem Weg zur Schule hinterhergeschaut. Dann ist jeder in seinen Alltag gefahren. Die Frau hat konzentriert gearbeitet und sich zusammen mit Kolleg/-innen über den Abschluss eines Projektes gefreut. Wieder zuhause angekommen stehen wie üblich Kinder und Hausaufgaben, kleine Erledigungen an. Sie bereitet das Abendessen vor und freut sich schon darauf ihrem Mann vom erfolgreichen Tag zu berichten, als es klingelt. Auf der Schwelle ihres Hauses teilt ihr ein Polizist mit, dass ihr Mann tot aufgefunden wurde.

Die Mutter macht sich viele Sorgen um ihren Jüngsten. Er ist verschlossener geworden, sieht seine Freund/-innen weniger, macht einen antriebslosen Eindruck. Mit dem Vater gibt es immer wieder lautstarke Auseinandersetzungen. Doch der findet das eher normal und macht sich nicht allzu große Sorgen um seinen Sohn. Eines Abends, machen sich die Eltern auf den Weg zu Freunden. Stunden später kommen Sie noch immer erfüllt von den guten Gesprächen nach Hause. Im Zimmer des Sohns brennt noch Licht. Als der Vater die Tür öffnet, sieht er seinen Sohn leblos am Boden liegen. Die Sanitäter wollen noch helfen und doch können sie nur noch den Tod feststellen.

Auf dem Tisch liegt ein Brief, daneben ein Handy. Schon den ganzen Abend wartet der Mann auf das Klingeln. Nicht zum ersten Mal sitzt er hier zwischen Bangen und Hoffen. In der Zeit des Wartens ziehen die Situationen an ihm vorbei, in denen sich seine Frau versucht hatte das Leben zu nehmen: Ambulanz, Psychiatrie, Besserung und Hoffnung darauf alles hinter sich zu lassen, Depressionen, immer wieder, immer wieder. Dann blinkt das Telefon: „Wir haben Ihre Frau gefunden. Es tut uns leid, wir konnten ihr nicht mehr helfen. Bitte kommen Sie.“ 

Zwei Jahre lang lebt die 75-jährige Frau jetzt schon nach dem Tod ihres Mannes alleine in dem großen Haus am Waldrand. Sie vermisst ihren Mann sehr, ist schon seit einiger Zeit körperlich stark eingeschränkt. Ohne fremde Hilfe kann sie das Haus nicht mehr verlassen und sie vermisst ihre ausgedehnten Spaziergänge, den Besuch von kulturellen Veranstaltungen und ihre Unabhängigkeit. In der ersten Zeit nach dem Tod ihres Mannes haben sich noch ihre Tochter und Bekannte viel um sie gekümmert. Das hat stark nachgelassen. Sie erträgt es nicht länger und beschließt aus dem Leben zu gehen. Die Pflegerin findet sie am nächsten Morgen im Garten.

Die Welt bleibt einen Moment lang stehen – für die Ehefrau, die Eltern, den Partner, die nahen Angehörigen der alleinstehenden Dame. Unfähig klare Gedanken zu fassen, vielleicht auch versteinert, schreiend, weinend, wütend und fassungslos lässt diese Nachricht Betroffene, vielleicht auch Sie zurück. Schock und das Nicht-verstehen können/wollen sitzen tief. Die Beine versagen Ihnen vielleicht, das Herz beginnt zu rasen oder bleibt beinahe stehen, die Hände werden feucht und kalt, es stockt Ihnen vielleicht der Atem, weil Sie diesen einen Satz, diesen Anblick, die Nachricht nicht hören, ungehört machen wollen, zurückspulen möchten in der Zeit.

 

Warum?

Von einem Moment auf den anderen gibt es zwei Realitäten: die eine Realität außerhalb und die andere, innere Wirklichkeit, die Sie nur noch in sich selbst wahrnehmen können. Die nächsten Stunden, Tage vergehen wie in einem Alptraum und die Frage nach dem Unfassbaren bleibt: wo ist der Mensch, der gerade noch da war, den ich angefasst und gespürt habe? Wie konnte das passieren? Was habe ich nicht gesehen? Warum hat er/sie dies getan? Vielleicht auch, warum konnte ich nicht helfen? Warum war ich ausgerechnet in diesem Moment nicht zur Stelle? Habe ich bei unserem letzten Treffen etwas übersehen, was mich stutzig hätte machen müssen?

Sie werden sich vielleicht Fragen stellen, die sich in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten oder sogar Jahren immer wieder durch Ihren Kopf drehen. Fragen, auf die Sie keine Antwort finden werden.

 

Wie kann ich von etwas Abschied nehmen, was ich eigentlich nicht gehen lassen möchte?

Vor einem Tag, vor zwei Tagen, vor drei Tagen habe ich ihn noch lebend gesehen, habe ich mit ihr gesprochen, sie lachen gesehen – wie ein Mantra wiederholen sich vielleicht diese oder ähnliche Sätze in Ihrem Kopf.

In den Tagen danach wechseln Unverständnis und schwankende Gefühlslagen sich ab mit organisatorischen und behördlichen Formalitäten. Wie soll es da gelingen Abschied zu nehmen? Wie könnte Nicht-Gesagtes noch gesagt werden? Wie könnte ein passender Rahmen dafür aussehen?

Die Ehefrau und ihre beiden Kinder möchten sich jeder, auf seine Art und Weise noch sehr persönlich von ihrem Mann/Vater verabschieden und schreiben Briefe, die sie ihm in den Sarg legen. Seine Frau äußert den Wunsch, ihren Mann noch einmal zu sehen und ihn auch noch einmal anfassen zu können.

Dem Vater, dessen Sohn verstorben ist, ist es wichtig, lange Zeit neben dem Sarg im stummen Zwiegespräch zu verbringen. Die Mutter hat entschieden, dass sie ihren Sohn mit seinem lebendigen Gesichtsausdruck in Erinnerung behalten möchte. Einige seiner Freund/-innen kommen noch einmal und geben „Grabgaben“ mit.

Der Ehemann hat das geblümte Kleid ausgesucht, das seine Frau in ihren guten Phasen so gerne angezogen hat. Nach den langen Jahren, in denen es so dunkel für seine Frau war, ist es ihm wichtig, dass ihr Sarg von allem umgeben ist, was Licht gibt und schönmacht.

Die Tochter nimmt Abschied, indem sie ganz bewusst durch den Garten geht, den ihre Mutter so gerne hatte und Blumen pflückt, die sie auf ihren Sarg legt.

Abschied von einem Menschen zu nehmen ist etwas ganz Individuelles und Persönliches. Auch wenn Ihre ganz eigenen Formen und Wünsche des Abschiednehmens vielleicht nicht für Andere nachvollziehbar sind, sich in den Augen anderer vielleicht nicht „schicken“ oder dies anders von Ihnen erwartet wird. Es ist so passend für Sie, wie es für Sie gut ist.

Vielleicht haben Sie Angst davor, den Verstorbenen noch einmal zu sehen, weil Sie nicht wissen, was Sie erwartet. Vielleicht kann ein letzter Blick auf den Verstorbenen auch Ihr Bild, dass Sie sich vom Anblick gemacht haben, relativieren.

Der Ehemann hat seiner Frau und den Kindern einen Brief hinterlassen, in dem er seine Fürsorge ausdrückt. Dies wird der Familie auch für die Wochen nach dem Tod Trost sein. Die Ehefrau ist froh, dass sie ihren Mann noch einmal berührt hat, und so auch körperlich Abschied von ihm nehmen konnte.

Freunde ihres Sohnes bringen nach dem Tod Fotos vorbei, die noch kurz vor dem Tod ihres Sohnes entstanden sind. Für die Eltern sind diese letzten Bilder ihres Sohnes besonders wichtig.

Der Mann findet einen Brief, den seine Frau geschrieben hat. Noch ist er nicht in der Lage ihn zu öffnen und legt ihn erst einmal zur Seite. Lieber geht er für den Moment zu einem schönen Ort, an dem sie beide oft zusammen waren.

Die Tochter erinnert sich an Gespräche mit ihrer Mutter, in denen sie sich über den Tod unterhalten haben, aber auch über das reiche Leben, dass sie gelebt hat.

Rückblickend werden Sie vielleicht auch als Trauernde noch Abschiedsworte- und Gesten finden und umdeuten, die Ihnen Trost und Halt geben können. Vielleicht wird es Menschen geben, die Ihnen noch von ihren letzten Begegnungen mit dem Verstorbenen erzählen. Auch dies könnte unterstützend sein.

Anklagende Abschiedsbriefe oder kurz vor dem Suizid gesagte Worte oder ungelöste Konflikte können andererseits auch sehr erschütternd, verwirrend und zusätzlich belastend sein. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, wie Sie Distanz finden können. Man kann einen solchen Brief zunächst reell oder im Inneren auch ein Stück wegschließen, um sich nach und nach damit auseinandersetzen zu können. Allerdings erst dann, wenn man sich stark genug spürt, dies zu tun.

 

Tabu Suizid

Schon kurz nach der Trauerfeier erlebt die Ehefrau, dass Nachbarn und Passanten in dem kleinen Dorf ihren Blicken ausweichen, anstatt zu grüßen. Die Eltern des verstorbenen Sohnes werden zu einem Familienfest eingeladen, dort wird der Tod ihres Sohnes jedoch peinlichst vermieden und in den Gesprächen ausgespart. Einige Freunde der Verstorbenen können nicht nachvollziehen, warum der Partner zunächst so heiter angesichts des Todes seiner Frau ist und möchten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Die Tochter muss sich zusätzlich zu den eigenen Vorwürfen Anschuldigungen vom Pflegedienst anhören. 

Suizid ist häufig mit einem gesellschaftlichen Tabu belegt. Vielleicht haben Sie es als Angehöriger erlebt, dass getuschelt, betreten auf den Boden geschaut, ignoriert, in der Schule gehänselt, kritisiert wurde, wenn ein Suizid „passiert“ ist. Der also eh schon kaum zu verkraftende Verlust geht also auch noch mit gesellschaftlicher Ächtung einher, der für Angehörige zum Teil nur schwer zu ertragen ist, weitere Verletzungen mit sich bringt und dadurch für die Betroffenen noch zusätzliches Leid verursachen kann. Oft ist die Vermeidung des Themas auch Ausdruck von Hilflosigkeit, da Menschen unsicher sind und nicht wissen wie sie sich Ihnen gegenüber verhalten können.

Vielleicht kennen Sie diese oder ähnliche Gedanken gegenüber Trauerenden:

  • Ich habe Angst auf den Trauerenden zuzugehen. Ich sehe das Leid, aber ich kann nicht damit umgehen.
  • Ich habe Angst etwas Falsches zu sagen. Ich habe Angst vor den Tränen, vor Gefühlen, die ich bei der anderen Person, durch das, was ich sage, auslöse.
  • Ich habe kein Verständnis für das, was der Mensch getan hat. Ich kann auch nicht mein Mitgefühl zeigen.

Vielleicht kennen Sie etwa diese Aussagen oder ähnliche als Trauernde(r):

  • Jetzt starrt mich schon wieder jemand so an. Das ertrag ich nicht.
  • Können sie sich ihr Mitleid nicht sparen. Das geht mir auf die Nerven.
  • Er ignoriert das, was passiert ist völlig. Das finde ich sehr verletzend.

Diese oder ähnliche Gefühle oder Gedanken können bewirken, dass Menschen sich zurückziehen, Missverständnisse entstehen oder Kontakte auch ganz abbrechen.

In diesen Fällen kann ein Aufeinander zugehen von beiden Seiten hilfreich sein: für den einen kann es erleichternd sein, wenn er weiß, dass auch die Hilflosigkeit in Ordnung ist, für den anderen, dass er erzählen kann.

An dieser Stelle geht es auch um ein sich dem anderen „Zumuten“: sich zumuten in seiner Hilflosigkeit einerseits und andererseits in der Trauer, die so ist, wie sie ist. Gelingt dies, kann dies auch stärkend sein.

Vielleicht haben Sie aber auch erlebt das einige Menschen das offene Gespräch mit Ihnen gesucht haben, Ihre Gefühle zum Ausdruck gebracht haben und Sie damit sehr unterstützt haben. Dann können Gespräche tief und tragend sein. So wie eine Abschieds- oder Trauerfeier und das kollektive Trauern mit all seinen Facetten Balsam für Ihre Seele sein kann.

Eines verbindet Sie mit allen Trauernden: bei Trauer nach Suizid geht es vorrangig um die Trauer um den Verstorbenen, die Trauer der Angehörigen und nicht primär um die Todesart[1].

 

Schuld – und Schamgefühle

Hätte ich es verhindern können? fragt sich die Ehefrau immer und immer wieder. Hätten wir die Anzeichen, dass sich unser Sohn immer mehr zurückzieht, von Anfang an anders deuten müssen? Hätte es mir nicht auffallen müssen, dass sich mein sonst so aufmerksamer Schüler, nicht mehr beteiligt? Was habe ich unversucht gelassen? Was vielleicht unterlassen? Hätte ich mich mehr um meine Mutter kümmern müssen?

Und vielleicht auch solche Fragen wie: sind es meine Erziehungsfehler, die mein Kind in den Suizid getrieben haben? Oder war ein ungelöster Streit mit meinem Partner Auslöser für den Suizid? Habe ich meine Mutter spüren lassen, dass ich das Kümmern als Last empfunden habe?

Auch Schuldzuweisungen wie

  • Hast du denn gar nicht an mich und die Kinder gedacht, als du dies getan hast?
  • Du machst mich unmöglich gegenüber den anderen Menschen um mich herum. Du ziehst mich mit in den Abgrund!
  • Du hast auch mein Leben zerstört!

können auftauchen und auch erschreckend in ihrer Wucht sein. Können bis zu dem Punkt gehen, dass sie sich schämen und negativ über sich denken. Diese nachvollziehbaren Momente können jedoch eines von vielen Gefühlen auf ihrem Trauerweg sein.

Wochen- und monatelang ja vielleicht sogar jahrelang quälen sich die Hinterbliebenen mit diesen oder ähnlichen Fragen. Überlegen, was sie anders hätten tun können, welchen Anteil sie vielleicht am Tod des Angehörigen hatten oder wer vielleicht sonst noch schuldig sein könnte. Es könnte sein, dass Sie damit Ihr Bedürfnis nach Erklärungen befriedigen, oder sich damit Luft machen können, um in dieser Überforderungssituation nicht zu platzen. Oder Sie stellen fest, dass sie vielleicht durch die Schuldgefühle in einer Art innerer Verbundenheit zum Verstorbenen stehen[2] im Sinne: „ich bin Schuld an deinem Tod und dein Tod hat mein Leben zerstört.“

Es könnte sich anfühlen wie ein inneres Gericht, in dem Sie über Schuld befinden, immer wieder. Ohne Auflösung, ohne Urteil, streng mit sich und anderen, unfähig sich zunächst daraus zu befreien. Verfestigt sich dies und wird zu einem festen Bestandteil Ihres Fühlens und Handelns schadet Ihnen dies dauerhaft. Hilfreicher ist es wenn Sie Schuld durch Verantwortung ersetzen können: den eigenen Anteil sehen, andere Teile der Verantwortung jedoch auch bei den anderen lassen.

In dieser Phase, in der Sie ohnehin schon dünnhäutig und verletzlich sind, könnte sich auch das Gefühl einstellen, nichts mehr, was vorher so leicht fiel, hinzubekommen. Sich einzugestehen, dass ein Teil Ihrer Lebenstüchtigkeit verloren gegangen ist. Das könnte dazu führen, dass Sie sich vor den anderen schämen, sich verschließen, zumachen.

Nach jahrelangem Ringen, mehreren Suizidversuchen, Psychiatrieaufenthalten, Momenten zwischen Hoffnung und Bangen eines nahestehenden Menschen fühlt man sich ausgelaugt, an der Grenze der eigenen Kraft! Deshalb kann es sein, dass man nach dem Suizid zum ersten Mal seit langem Erleichterung und Entspannung verspürt. Oder Gedanken hat wie „endlich ist es vorbei“ oder „lange hätte ich das selbst nicht mehr so gepackt“. Diese Gedanken und Gefühle könnten eventuell auch Schamgefühle auslösen. Wie bei anderen Gedanken könnte es hilfreich sein, dies zuzulassen und auch wieder vorbeiziehen zu lassen, ohne innere (Ab-) Wertung der Worte und Abwertung Ihrer eigenen Person. Dies könnte ein Teil Ihres Trauerprozesses sein, vielleicht hilft es Ihnen zu wissen, dass Sie nicht alleine mit diesem Gefühl sind!

Und vielleicht ist es auch hilfreich Gedankenräume zu schaffen, die ohne Schuld, Scham und Strafe auskommen. Versuchen Sie eine Sprache zu finden, die das ausdrücken, was Ihnen wichtig ist, ohne sich zu schämen oder das Gefühl zu haben, sich verstecken zu müssen, etwa als Zurückgebliebene(r) und Trauernde nicht adäquat und passend zu sein. Oder auch Vertrauen zurückzugewinnen, dass Sie ein wertvoller Mensch sind und Ihre Fähigkeiten wiedererlangen, sobald der Sturm sich wieder etwas beruhigt hat.

 

Wut

In den ersten Wochen, in denen viel organisiert und geregelt werden musste, empfindet die Ehefrau auch oft Wut verbunden mit der Frage; wie konnte er mich nur mit all dem so alleine lassen, einfach weggehen? Sie reagiert auf die von ihrem jüngsten Kind gestellte Frage: wann denn der Vater endlich wieder nach Hause kommt mit Wut und Abwehr. Die Tochter ist still wütend auf ihre Mutter, weil diese keine Zeit mehr für sie hat.

Der Vater schreit seine Frau wütend an, wie sie denn nur so schnell wieder zur Tagesordnung übergehen könnte. Das gehöre sich nicht, schon nach einigen Wochen das Zimmer ihres Sohnes leerräumen zu wollen. Die Mutter ist gerade sehr wütend auf ihren Sohn, dass er ihr das angetan hat und möchte seine Kleider, sein Zimmer, so wie er es hinterlassen hat, nicht mehr ständig sehen.

Der Mann ist wütend auf die Anklagen, die seine Partnerin in ihrem Abschiedsbrief formuliert hat. Und dabei hat er alles gemacht, was er nur konnte, um ihr zu helfen.

Warum hat meine Mutter nur so wenig ihre Wünsche zum Ausdruck gebracht, fragt sich die Tochter wütend. Wut aber auch auf sich, dass sie nicht auf die Alarmsignale und Worte ihrer Mutter kurz vor ihrem Tod geachtet und möglicherweise falsch interpretiert hat. Gleichzeitig schämt sie sich für ihre Wut.

Wut gehört wie alle anderen Gefühle auch zum Trauerprozess hinzu. Es sind Ihre Gefühle, die Ihnen niemand absprechen kann und darf. Wut kann etwas sehr Gesundes und Klärendes sein, wenn Sie dies zulassen. Es kann helfen, wie ein Gewitterschauer, Aufgestautes loszulassen.

 

Facetten des Trauerns[3]

Trauern ist Ihre individuelle Trauer bei jedem Tod oder Verlust, den Sie betrauern. Niemand hat Ihnen vorzuschreiben, wie dies zu sein hat. Wann Trauer beginnt und wieder aufhört. Die Trauer hat viele Facetten. Und es ist Ihr persönlicher Trauerweg, in der sich die einzelnen Facetten bemerkbar machen, so wie es sich für sich anfühlt. Dazu können die folgenden Aspekte gehören:

  • Das reine Überleben angesichts der traumatischen Situation,
  • den Tod begreifen und verstehen können,
  • alle widersprüchlichen Gefühle wahrnehmen und ausdrücken können,
  • sich an die neuen Begebenheiten anpassen können,
  • verbunden bleiben mit dem Verstorbenen.

Vielleicht kennen Sie diese oder ganz andere Fragen aus Ihrem persönlichen Trauerprozess z.B.:

  • Wie kann ich meine Gefühle anerkennen und ernst nehmen?
  • Wie gehe ich mit meinen eigenen Gefühlen um bzw. denen meiner Kinder, die alle auch trauern, aber auch wieder anders?
  • Wie spüre ich mich dem Verstorbenen nahe? Was teile ich ihm/ihr gerne mit? Wie möchte ich den Verstorbenen in meine Entscheidungen mit einbeziehen?
  • Welche Rituale, die mich mit dem Verstorbenen verbinden, tun mir gut?

 

Ich kann auch nicht mehr

Sie werden vielleicht lange Phasen von Verzweiflung, Ohnmacht und Starre durchleben. Oder aber auch das Gefühl von „wie soll ich dies jemals alles alleine schaffen“ und „wäre es nicht vielleicht auch besser, wenn ich nicht mehr da wäre“. Das sind harte und anstrengende Momente, die Sie in tiefe Verzweiflung stürzen können. Und Bestandteil Ihres Trauerprozesses sein können. Suchen Sie in diesen Momenten nach Menschen und/oder Orten, die Ihnen guttun, nach allem, was Ihnen eine Verschnaufpause verschafft. Vielleicht gibt es auch etwas, was Sie von sich aus an andere abgeben können. Oder etwas, was Sie zulassen können, dass Ihnen ein anderer Mensch etwas abnimmt, Ihnen mit einer lieben Geste zu verstehen gibt „ich bin gerade für dich da“.

Und vielleicht könnte es für Sie wichtig sein, eine professionelle Trauerbegleitung in Anspruch zu nehmen, sich in einer Selbsthilfegruppe auszutauschen oder andere Möglichkeiten wie eine Therapie, Kur in Anspruch zu nehmen.

 

Wie kann das Leben weiter gelebt werden – ohne ….?

Und dann, nach langen Monaten kam der erste Morgen an dem die Ehefrau nicht direkt mit einem Gedanken an ihren Mann aufgewacht ist.

Der erste Tag seit langem, an dem der Vater nicht in das Zimmer des Sohnes gegangen ist, um die Jalousien aufzumachen.

Der Moment, in dem der Mann um seine Frau weinen kann.

Der erste Abend, an dem die Tochter nicht wie sonst üblich, im Zwiegespräch mit ihrer Mutter durch den Garten gelaufen ist.

Es ist an dieser Stelle, an der Sie vielleicht zum ersten Mal wieder einmal, ohne schlechtes Gewissen, an sich gedacht haben, an Ihre Kinder, an Freund/-innen und Bekannte, mit denen Sie schon längere Zeit nicht mehr in Kontakt waren.

Sie sind vielleicht bereit etwas aus der Distanz heraus zu erblicken, was sich alles nach dem Tod verändert hat, verändern musste, weil einfach nichts mehr so war, wie vorher. In der Sie zusätzlich Rollen und Aufgaben übernommen haben, die sonst der Verstorbene übernommen hatte. In der Sie trotz aller Schwere den Alltag bewältigt haben.

Und Sie stolz darauf sind, was und wie Sie das bewältigt und geschafft haben. Nicht untergangenen sind, auch wenn immer wieder neue Unwetter und Stürme heraufgezogen sind.

Zunächst waren es die Kinder, die Kinder, die eine Ecke mit Bildern und Fotos für ihren Vater eingerichtet haben. Mittlerweile ist es für alle ein Ritual, jeder auf seine Weise, an den Vater und Mann zu denken.

Die Eltern des verstorbenen Sohnes laden jetzt zum Geburtstag des Sohnes ihre guten Freunde und Freunde ihres Sohnes ein, um Erinnerungen auszutauschen. Es sind lebendige Momente, in denen ihnen ihr Sohn ganz nah ist.

Der Mann geht gerne an den Ort zurück, an dem sie oft gemeinsam waren. Oft hilft ihm dies, wenn er über wichtige Entscheidungen nachdenkt, die er sonst zusammen mit seiner Frau getroffen hat.

Die Tochter hat eine Erinnerungskiste mit Lieblingsstücken ihrer Mutter zusammengestellt, die sie ab und an herausnimmt, wenn sie sich nach ihrer Mutter sehnt.

Vielleicht könnte es auch für Sie hilfreich sein, nach und nach mit den Erinnerungen an den Verstorbenen ein lebendiges facettenreiches Lebens-Buch zu schaffen. Mit verschiedenen freud- und leidvollen Momenten, lustigen und ernsten Anekdoten, schönen Begebenheiten und Erinnerungen.

Ein Wendepunkt, der Ihnen auch erlaubt, loszulassen und wieder selbst zu entscheiden. Der Moment, in dem Sie Ihrem Leben eine neue Richtung geben. Und Sie entscheiden, wann und in welcher Form der Verstorbene weiterhin im Alltag präsent sein darf. Das, was zunächst unterbrochen und unüberbrückbar schien, darf wieder eingewebt in das Leben sein[4].

Auch noch einmal in der Gewissheit, dass Ihr Trauern ein ganz persönlicher Weg ist, den Sie aktiv mitgestalten. In dem Ihnen keine(r) vorschreibt, wie dies jetzt und auch in Zukunft zu sein hat.

Was gleichzeitig auch noch einmal damit verbunden sein kann, dass Sie sich in ihrem bisherigen sozialen Umfeld nicht mehr passend fühlen könnten, dass Sie nach einer neuen beruflichen Herausforderung suchen, dass Sie mehr Distanz zu Familienangehörigen bekommen haben oder sogar Freundschaften (fast) zerbrochen sind.

 

Trauer als persönlicher Reifungsprozess

Nach etwas Zögern nimmt die jetzt alleinerziehende Mutter das Angebot an, auf eine Arbeitsstelle mit einem größeren Verantwortungsbereich zu wechseln, in der sie all ihre Kompetenzen zeigen kann. Sie freut sich über diese Wertschätzung und ist stolz auf sich, wie sie die lange Durststrecke überstanden hat.

Auch wenn es für das Ehepaar, dessen Sohn verstorben ist, nach wie vor schmerzhaft ist, zu sehen wie die jugendlichen Freunde ihres Sohnes älter werden, können sie ihren Alltag leben und engagieren sich in einer Selbsthilfegruppe, die ihnen nach dem Verlust ihres Sohnes sehr geholfen hat.

Für den Ehemann war es nicht einfach mit dem Verlust, dem Kümmern und auch den Anklagen, die seine Frau an ihn gerichtet hat, umzugehen. Therapie und viel Zeit mit sich selbst haben ihm dabei geholfen. Er freut sich über seine neue Beziehung.

Vielleicht können Sie auch anerkennen, dass Sie und Ihre Familie über sich hinausgewachsen sind. Dass sich Familienstrukturen verändert haben und vielleicht auch durch den Tod Klärungen ergeben haben. Dass Sie gemerkt haben, auf welche Freund/-innen Sie sich verlassen konnten. Und dass Sie wieder neue Partnerschaften und Beziehungen eingehen können. Dass Ihnen auffällt, dass Sie über Ressourcen verfügen, die Sie vorher bei sich nicht gesehen haben oder die sich durch die Krise neu entwickelt haben. Dass Sie wissen, was Sie brauchen, damit es Ihnen gut geht und Grenzen setzen können, wo Sie sie brauchen.

Es ist gut möglich, dass Sie durch den Weg, den Sie gegangen sind, der Sie herausgefordert hat, auch anders mit Sinn- und Wertefragen umgehen. Dass Sie Dinge mit einem anderen Blick sehen, wie vorher. Dass Ihnen Dinge nichtig erscheinen, über die Sie sich vorher viele Gedanken gemacht haben. Oder dass Sie gelassener geworden sind.

Es könnte sein, dass Sie besser wie vorher wissen, welche Prioritäten Sie in Ihrem Leben setzen möchten. Und auch feststellen, dass Sie in und mit Ihrer Trauer „gewachsen“ sind, vielleicht auch einen Zugewinn an Stärke und Empathie für andere Menschen in Krisensituationen fühlen können.

Das Leben darf auch für Sie wieder helle und lichte Momente haben, ohne schlechtes Gewissen, diese nicht leben zu dürfen. Der Verstorbene hat seinen Platz und feste Bedeutung in Ihrem Leben gefunden. Ihr Blick auf sich selbst, Beziehungen, Ihre Umwelt hat sich verändert.

Ihr Leben verläuft anders, vielleicht anders wie Sie es sich je vorgestellt haben. Aber es ist ein Leben, das neue Perspektiven für Sie bereithält.

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.

Hilde Domin

 

[1] nach Chris Paul

[2] Aus: Und wenn niemand schuld wäre? Vom konstruktiven Umgang mit Schuldzuweisungen und Selbstvorwürfen, Chris Paul

[3] Begriff geprägt von Chris Paul

[4] Robert A. Neimeyer, Bereavement and the quest for meaning: rewriting stories of loss and grief

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